Mythen aus dem alten Mesopotamien berichten, der Mensch sei einst künstlich als Arbeitssklave der Götter geschaffen worden. Autoren wie etwa Zecharia Sitchin nehmen diese Berichte wörtlich und führen sie auf den Einsatz von Gentechnik durch Außerirdische zurück. Doch was bedeutet dies für uns – sind Gewalt, Sklaverei und Sterblichkeit das Ergebnis einer genetischen Deformation, wie Michael Tellinger in seinem Buch “Die Sklavenrasse der Götter“ behauptet? Eine Gegenüberstellung mit Fakten der Biologie bringt Ernüchterung.
Teil II – Gott, Gewalt und Gene
Wie schon im letzten Abschnitt erwähnt, ist der eigene Beitrag zu den in ‚Die Sklavenrasse der Götter‘ vertretenen Thesen überschaubar. Kern dieses Buches ist dabei die mutmaßliche Erschaffung bzw. gentechnische Veränderung des modernen Menschen durch die Anunnaki. Wie schon Sitchin vertritt Tellinger die Ansicht, dass jene die Erde zum Abbau von Gold kolonialisierten, das sie zum Schutze der schwindenden Atmosphäre ihres Heimatplaneten Nibiru benötigten. Als, wie im babylonischen Atramḫasis-Epos beschrieben, die niederen Götter nach jahrtausendelanger Schwerstarbeit in den Minen gegen ihren Anführer Enlil rebellierten, brachte dessen Bruder Enki den Vorschlag der Erschaffung einer niederen Arbeiterrasse vor. Also wurde der primitive Homo erectus durch Gene der Anunnaki „aufgewertet“ und so eine erste Population erschaffen. (Im Mythos selbst fehlt wohlgemerkt der schon existierende Ur-mensch; dort werden die Menschen aus Lehm sowie dem Blut und/oder Fleisch eines getöteten Gottes geschaffen.) Erst viele Jahrtausende später wurde den Menschen nach und nach eine eigenständige Kultur erlaubt, wenn auch nach wie vor unter Herrschaft der Anunnaki. Doch dies zu erörtern, fällt in den Bereich einer eigenen Sitchin-Kritik.
Tellingers Schwerpunkt sind indes die vor allem negativen Eigenschaften des Menschen, die dieser auf die gentechnische Beeinflussung zurückführt. Die Argumentationsweise hier erstaunt: Einerseits beruft sich Tellinger durchweg auf die Biologie, zieht Gene und Evolution als zentrale Faktoren heran – und schafft es doch, dabei stets auf dem Terrain einer religiös-abergläubischen Mentalität zu verbleiben.
Über zig Seiten illustriert er zum Beispiel allerlei menschliche Gräuel: Die Sklaverei als uraltes, scheinbar universelles Phänomen etwa [1], die, wie er meint, ja eigentlich der Natur widerspricht:
„Warum und wie Menschen der Frühzeit überhaupt auf das Konzept der Sklaverei kommen konnten, widerspricht jeder Logik. Vielmehr ist zu vermuten, dass der Menschheit diese widersinnige Aktivität von jemandem beigebracht wurde, dem sie bereits bekannt war.“ [2]
Dieser Gedanke führt unweigerlich zu einem Teufelskreis: Wenn niemand Sklaverei von sich aus erfinden kann, woher kommt sie dann ursprünglich? Von wem haben die Anunnaki sie gelernt? Wenn niemand sie erfinden kann, wieso dann die Anunnaki – und wenn doch, wieso nicht die Menschen?
Im Übrigen bietet selbst das Tierreich vergleichbare Beispiele, wie Wikipedia über unsere sechsbeinigen Mitkreaturen zu berichten weiß:
„Manche Ameisenarten sind nicht in der Lage, selbstständig zu fressen oder Nestbautätigkeiten auszuführen. Sie dringen in artfremde oder -eigene Nester ein und töten entweder alle dort lebenden Ameisen, um deren Bau für das eigene Volk zu nutzen, oder lassen nur die bald schlüpfenden Larven unversehrt, um sie als Sklaven aufzuziehen. Meistens werden bei dieser Form immer wieder Raubzüge unternommen, um sich ständig neue Sklaven zu besorgen. Sklavenhaltung findet man bei der Amazonenameise (Polyergus rufescens) und der Blutroten Raubameise Formica sanguinea (Sklavenarten aus der Untergattung Serviformica), bei Harpagoxenus sublaevis (Sklavenarten aus der Gattung Leptothorax), oder bei der Gattung Temnothorax (ehemalige Gattungen Chalepoxenus und Myrmoxenus; Sklavenarten aus der Gattung Temnothorax), sowie bei der Gattung Strongylognathus (Sklavenarten aus der Gattung Tetramorium).“ [3]
Da wohl tendenziell zu bezweifeln ist, dass Ameisen als Kulturstifter der frühen Menschheit auftraten (bislang fehlen dahingehende Belege), sollte folglich angenommen werden, dass die Erfindung von Sklaverei nicht nur möglich, sondern auch „natürlich“ ist.
Doch nicht nur die Sklaverei, sondern auch jede andere Form von Grausamkeit des Menschen führt Tellinger auf eine genetische Veränderung durch die Anunnaki zurück:
„Wenn wir die Ereignisse, die unsere Geschichte geprägt haben, kritisch Revue passieren lassen, sehen wir nur Gewalt, Konflikte, Zerstörung. […] Wieder einmal muss ich Sie daran erinnern, dass das Gewalt-Gen in unserem Körper tief verwurzelt und stark ist“ [4]
Und natürlich kann nur eine Partei für all dieses Übel verantwortlich sein:
„Wenn wir also Teile unseres Schöpfers in uns tragen, bedeutet das doch im Rückschluss, dass im Genom dieses Schöpfers das Gewalt-Gen verankert sein muss!“ [5]
Dass jene Anunnaki uns buchstäblich nach ihrem Bilde gestalteten, wird unter anderem mit zahlreichen Bibelstellen begründet, die die Grausamkeit des alttestamentarischen Gottes belegen. Ein ganzes Kapitel von über vierzig Seiten [6] widmet sich einer Darlegung der Untaten und des bösartigen Charakters des biblischen Gottes. Diese Erkenntnis, dass der angeblich so liebe Gott tatsächlich ein totalitärer, sadistischer Massenmörder ist, scheint den religiös sozialisierten Michael Tellinger extrem zu schockieren – so sehr, dass es ihm buchstäblich „kalt den Rücken herunter“ lief. [7] Die dem zugrunde liegende Naivität erinnert noch am ehesten an ein Kind, das zum ersten Mal davon erfährt, dass Chicken Nuggets aus Hühnern gemacht werden.
In den zig Seiten, die sich mit der menschlichen (und „göttlichen“) Grausamkeit befassen, taucht dieser Terminus des „Gewalt-Gens“ mit beeindruckender Regelmäßigkeit immer wieder auf. Wissenschaftliche Studien, die die Existenz eines solchen belegen würden, werden nicht angeführt. Natürlich sind viele Aspekte der menschlichen Natur noch näher zu erforschen – doch ist die Annahme eines solchen „Gewalt-Gens“ überhaupt plausibel?
Da wäre zunächst die ewige Frage, ob sich unser Verhalten nun vor allem auf unsere genetische Veranlagung, die soziale und kulturelle Prägung oder einen wie auch immer definierten „freien Willen“ zurückführen lässt. Dieses Fass möge an dieser Stelle nun nicht geöffnet werden. Es mag vielleicht vermessen sein, die Rolle unserer Gene in Bezug auf unser Verhalten zu unterschätzen oder gar zu leugnen, doch auch Tellingers Annahme eines „Gewalt-Gens“ ist schwerlich haltbar. Zunächst muss natürlich bemerkt werden, dass es sich dabei um eine denkbar monokausale Erklärung handelt, die jede Form menschlicher Gewalt und Grausamkeit mit einer einzigen, spezifischen Ursache erklären will. Dem ist jedoch entschieden entgegenzutreten, lässt sich grausames Verhalten doch vielmehr auf ganz verschiedene Ursachen zurückführen:
- Sadismus bzw. (pseudo)sexuelle Befriedigung – vorzufinden etwa bei Serienmördern und anderen Triebtätern, in großen, strukturellen Kontexten hingegen eher irrelevant
- Die Verteidigung gegen eine (gefühlte) Bedrohung – von bloßer allgemein akzeptierter Notwehr bis hin zu den aus Paranoia und Kontrollwahn geborenen Gräueltaten von Despoten
- Gleichgültigkeit gegenüber dem Leid anderer angesichts eines eigenen Vorteils (Hab- und Machtgier) – so etwa die zahlreichen aus Habgier geborenen Verbrechen des Kolonialismus, wirtschaftliche Ausbeutung im Kapitalismus oder auch der Großteil der organisierten Kriminalität; darunter auch Sicherung von Macht durch Terror
- Die Überzeugung, für das Gute bzw. gegen das Böse zu kämpfen – etwa im Falle totalitärer Ideologien wie des Nationalsozialismus oder Islamismus
- Bestimmte Moral- und Ehrvorstellungen – vom Mord an einem sozialen Abweichler bis hin zu Kriegen aus reinem Prestige
- Persönlicher Hass und Rachegelüste – sei es gegen einzelne Personen oder ganze Gruppierungen, auch in struktureller Form
Weder handelte ein Hitler aus Mordlust und Sadismus, noch wäre einem Jack the Ripper ein ideologisches Konzept zu unterstellen. Auch wenn man einmal annähme, menschliches Verhalten sei einzig und allein genetisch determiniert, so wären doch für verschiedene Gräuel teils ganz verschiedene genetische Ursachen zu suchen: Ein Mangel an Empathie (daraus resultierend Gleichgültigkeit und Mitleidlosigkeit) oder der Fähigkeit zur vernünftigen Situationseinschätzung (Paranoia/Verfolgungswahn/Verschwörungstheorien), eine Neigung zum Aberglauben in Verbindung mit einschlägiger kultureller Beeinflussung (ideologische Verbrechen), ein übersteigertes Selbstbewusstsein bis hin zum Narzissmus (Verbrechen aus Ehre/Kränkung), eine Variation der emotionalen Bedürfnisse (Triebtäter) oder schlicht eine fehlende Affektkontrolle (Gewalt in Zorn und Raserei). Jeder dieser Punkte, sofern nicht sozial bedingt, dürfte eigene Gene zum Auslöser haben, obgleich Überschneidungen nicht auszuschließen sind.
Ist Michael Tellinger einfach nicht in der Lage, die Pluralität von Übeltaten und ihren Ursachen zu überblicken? Das ist schwerlich zu unterstellen. Vielmehr drängt sich ein anderer Eindruck auf: All diese werden ungeachtet ihrer Verschiedenheit in einen Topf geworfen, weil sie in einem religiös-esoterischen Weltbild eben nur verschiedene Seiten einer Medaille sind: Des Bösen.
Obgleich nämlich Tellinger stets mit Worten von Genen um sich wirft, sind diese doch nur die moderne Ausdrucksform einer archaischen, mehr religiösen als wissenschaftlichen Sichtweise auf die Welt und ihre Mechanismen. Im Endeffekt lässt sich der dahinterstehende Gedankengang in etwa folgendermaßen zusammenfassen:
1. Der Mensch muss gut sein.
2. Gott muss gut sein.
3. Der Mensch tut böse Dinge.
4. Also ist seine Natur böse.
5. Also muss sein Schöpfer böse sein.
6. Also kann der Schöpfer des Menschen nicht Gott sein.
Denn natürlich kann von der Annahme eines guten Gottes, die einfach zu tief sitzt, nicht gelassen werden. Nur kann dieser also nicht mehr identisch mit den Anunnaki sein, die schließlich für all das Böse verantwortlich sind:
„Der Zorn Gottes passt bestens zu diesem Verhalten eines ‚Kontrollfreaks‘ und sollte niemals mit dem Willen GOTTES verwechselt werden.“ [8]
„Es kann sein, dass Sie einige Zeit brauchen, aber ich hoffe, Sie werden allmählich zwischen Gott und GOTT zu unterscheiden lernen.“ [9]
„Der sogenannte Gott ist auf keinen Fall mit GOTT zu verwechseln. Viele Menschen wird diese Information sehr beunruhigen, und sie werden „Gottes Rache für ihre bösen Gedanken“ fürchten. Lassen Sie die Furcht hinter sich, erkennen Sie das Licht des wahren GOTTES, des GOTTES der Liebe, des GOTTES der Freude, des GOTTES der Barmherzigkeit, des Friedensfürsten. Keine gefräßige Gottheit, die als Geste der Loyalität Opfer von Gold oder Ziegen oder Menschen verlangt. […] Wissen ist Macht, und dieses Wissen wird mir helfen zu verstehen, wessen Namen ich spreche, wenn ich bete. Der GOTT des Universums, der Universelle Geist, das Höchste Wesen. Gewappnet mit diesem Wissen, kann ich mit Freude die weitere Reise der Menschheit erwarten, auf der wir uns zu einem vollkommenen Genom hin entwickeln, das die Tore unseres Geistes öffnen und uns in die Lage versetzen wird, uns der universellen Gemeinschaft aller Wesen anzuschließen.“ [10]
Harter Tobak. Doch da dieser Text keine grundlegende Religionskritik werden soll, sei Michael Tellingers persönlicher Gottesglaube einmal ausgeklammert, um sich stattdessen auf die anderen Aspekte seiner Theorien zu konzentrieren. Denn, wie schon zuvor erwähnt, findet bei ihm auch eine grundlegende Mystifizierung eigentlich naturwissenschaftlicher Begrifflichkeiten statt – ein wiederkehrendes Thema ist dabei das schon eben angeklungene „vollkommene Genom“:
„Ein perfektes Genom braucht keine Gewalt, Gier, Eitelkeit oder all die anderen Eigenschaften, die schon so lange Leid über die Menschen bringen.“ [11]
„Ein solches Verhalten ist nur mit unserer gestörten DNA zu erklären. Von allen Geschöpfen ist nur der Mensch zu solch grauenhaften Taten gegen seinesgleichen fähig. Aber wir müssen diese DNA doch irgendwoher geerbt haben!“ [12]
Ist dem so? Ist nur der Mensch zu solch grauenhaften Taten fähig? Auch hier lässt uns das Tierreich nicht im Stich, um unser unschönes Wesen wenn schon nicht zu entschuldigen, so doch wenigstens zu relativieren: Auch Schimpansen etwa praktizieren bisweilen Krieg bis hin zum Völkermord [13]. Und was ist mit den sklavenhaltenden Ameisen? Was ist mit einer Katze, die kaltherzig mit einer verletzten Maus spielt? Was ist mit der Schlupfwespe, die ihre Eier in ein betäubtes anderes Insekt legt, auf dass die schlüpfenden Larven dieses bei lebendigem Leibe von innen heraus auffressen?
Es sei an dieser Stelle eine ganz allgemeine Hypothese gewagt: Nichtmenschliche Tiere sind in ihren Handlungen nicht mehr oder minder grausam als der Mensch (im Rahmen der jeweiligen körperlichen, geistigen und logistischen Möglichkeiten). Wir betrachten das Verhalten aller anderen Tiere nur deshalb nicht als „böse“ (und ebenso wenig als „gut“), weil wir für uns selbst ein Konzept von freiem Willen und Verantwortung beanspruchen, das wir ihnen grundsätzlich absprechen. Somit können Tiere gemäß dem allgemein etablierten moralischen Dogma per definitionem nicht gut oder schlecht sein, egal wie sie handeln. Es gibt biologisch also wohl keinen Grund, derartiges Verhalten des Menschen als widernatürlich zu betrachten – das ist nur das Ergebnis eines unrealistischen Anspruchs an uns selbst.
Wie sich schon abzeichnet, ist Tellingers Blick auch zur Evolution ein esoterischer – diese wird verstanden als eine konstante Entwicklung hin zum immer Besseren, in körperlicher, ethischer und spiritueller Hinsicht. Das widerspricht dem, was Wissenschaftler von Genetik und Evolution verstehen, natürlich diametral. Es besteht kein Widerspruch zwischen einem destruktiven Verhalten und der Evolution – denn letztere begünstigt eben nicht das (in unseren kleingeistig-menschlichen Kategorien) „Gute“, sondern schlichtweg das, was zum Erfolg führt. Natürliche Selektion bedeutet nichts weiter, als dass jene Gene bzw. Merkmale, die zu einer erhöhten Überlebens- und damit Fortpflanzungswahrscheinlichkeit führen, in der nächsten Generation logischerweise in höherer Rate vertreten sind – was dann langfristig, über tausende von Generationen aufsummiert, auch zu einer ganz fundamentalen Veränderung führt. Dient moralisches, soziales Verhalten der Vermehrung der eigenen Gene, so stellt es einen Selektionsvorteil dar und setzt sich dementsprechend durch – doch selbiges gilt ebenso für jenes Verhalten, das wir als destruktiv und asozial bewerten, wenn es denn dem Individuum und seinen Genen nützt. Und natürlich wird es niemals zu einer grundsätzlichen Evolution in irgendeine Richtung kommen, die keinen Selektionsvorteil darstellt, wie es mutmaßlich bei Tellingers Vision des ungetrübten „Guten“ der Fall wäre. Gerade was die Moral angeht, scheinen sich beim Menschen „gute“ und „böse“ Eigenschaften in einer Art Gleichgewicht eingependelt zu haben, da sie beide in einem gewissen Rahmen deutliche Selektionsvorteile bieten.
Anders als bei manch anderen Pseudowissenschaftlern wird die Evolutionstheorie bei Tellinger nicht bestritten [14] – nur eben nicht verstanden. Grundlegende These ist bekanntlich, unser Genom sei fehlerhaft. Dies äußere sich zum einen natürlich in der Neigung zu Gewalt und Herrschsucht, aber auch etwa im Verlust der in der Bibel und der sumerischen Königsliste bezeugten Lebenserwartung von hunderten oder tausenden von Jahren [15]. Die Anunnaki haben buchstäblich fast unsere gesamte DNA irgendwie deaktiviert:
„Das Genom hat genau die Länge, die es haben sollte, und es ist genauso lang wie das Genom unseres Schöpfers, unseres Genspenders. Allerdings wurde die DNA manipuliert, und die meisten Gene (97%) wurden entfernt oder abgeschaltet. Zurück blieb eine unintelligente, primitive, unterwürfige Kreatur.“ [16]
„Zusammen mit dem Wissen, dass wir nur drei Prozent unseres Genoms gebrauchen, macht es allerdings deutlich, dass wir noch einen langen Weg vor uns haben, bis unser Genom voll funktionsfähig ist. […] Wozu werden Menschen fähig sein, wenn das volle Potenzial des Genoms erschlossen ist? Oder: Welche Fähigkeiten wurde [sic!] der Menschheit genommen, als dieses gesamte Potenzial bei unserer Erschaffung abgeschaltet wurde?“ [17]
Das werden wir leider nie erfahren, denn was diese Fähigkeiten angeht, bleibt Tellinger vage – obgleich sich assoziativ natürlich esoterische Vorstellungen aufdrängen. Ob ein indirekter Zusammenhang mit dem berüchtigten Mythos vorliegt, wir würden nur zehn Prozent unseres Gehirns nutzen [18], bleibt einmal dahingestellt. Doch woher die These vom zu 97% inaktiven Genom?
Die Rede ist natürlich von der sogenannten „Junk-DNA“ [19]. Damit wird der Teil des Genoms bezeichnet, der keine Proteine codiert. Beim Menschen macht diese nichtcodierende DNA in der Tat rund 95% aus [20], womit auch Tellingers Zahl von 97% durchaus im Bereich des Realistischen liegt (vermutlich liegt hier ausnahmsweise kein Fehler aus Inkompetenz, sondern vielmehr einfach eine andere, möglicherweise ältere Quelle vor). Doch ist diese riesige Masse an DNA tatsächlich nutzlos, wie der Name „Junk-DNA“ impliziert? Darüber wird in der Wissenschaft bis heute gestritten. Eine Studie des Projekts ENCODE kam zu dem Ergebnis, dass tatsächlich über 80% der menschlichen DNA eine gewisse biochemische Aktivität aufweisen [21] (d.h. auch ein Großteil der „Junk-DNA“), doch ist diese Publikation in verschiedener Weise kritisiert worden [22]. Im Gegenzug wird die tatsächliche Nutzlosigkeit eines Großteils der DNA anscheinend insofern belegt, als dass eine Entfernung weiter Teile davon bei Mäusen zu keinen sichtbaren Veränderungen führte. Die Frage nach Aktivität oder vollkommener Inaktivität der „Junk-DNA“ kann also wohl aktuell noch nicht abschließend beantwortet werden.
Doch das muss sie auch nicht – denn als Beweis für eine außerirdische Manipulation, gar Deformation, taugt sie keinesfalls. Zum einen sind bereits schlüssige Erklärungen für den großen Anteil der nichtcodierenden DNA vorgebracht worden: Bei einem Großteil davon handelt es sich wohl um sogenannte Pseudogene, d.h. Abschnitte, die einst Gene waren, jedoch durch Mutationen funktionsuntüchtig wurden (durch weitere Mutationen aber womöglich wieder eine Funktion und damit Relevanz für die Evolution bekommen könnten). Gerade in Hinblick auf Tellinger wären auch noch durch Viren eingeschleuste Gensequenzen zu nennen, deren Existenz und potenzielle Bedeutung er auf jeden Fall anerkennt [23]. Es gibt jedoch eine Tatsache, die Spekulationen über eine intentionale Entstehung der „Junk-DNA“ völlig den Boden entzieht: Sie kommt nämlich bei allen höheren Lebewesen vor und stellt dort meistens den Großteil der DNA. Selbst ein Michael Tellinger wird wohl kaum behaupten, dass jedes einzelne einigermaßen hoch entwickelte Tier von der Spitzmaus bis zum Kugelfisch (der ebenfalls rund 90% nichtcodierende DNA besitzt [24]) durch die Anunnaki eigens gentechnisch deformiert wurde. Ein weiterer Irrtum liegt darin, die Größe des (funktionstüchtigen) Genoms mit der Komplexität bzw. der Entwicklungsstufe des Lebewesens gleichzusetzen, wie es Tellinger implizit tut. Der Axolotl etwa besitzt mit 32 Milliarden Basenpaaren das umfangreichste bislang sequenzierte Genom eines Lebewesens, zehnmal größer als das des Menschen [25]. Ein Grund, den Axolotl auf einer höheren spirituellen Stufe anzusiedeln? [26] Auch die Zwiebel besitzt ein fünffach größeres Genom als der Mensch – ist Gott also vielleicht eine Zwiebel? [27]
Von Michael Tellingers pseudo-genetischen Spekulationen bleibt also letztlich nicht viel übrig: Die „Junk-DNA“ ist kein spezielles Merkmal des Menschen, lässt sich größtenteils natürlich erklären und ist vielleicht auch gar nicht so nutzlos wie gedacht – sie kann also nicht als Beweis einer gentechnischen Manipulation dienen.
Die Größe des Genoms spielt keine Rolle für die ethische oder spirituelle Evolution, welche evolutionsbiologisch betrachtet ohnehin ein absurdes Konzept ist. Sklaverei ist kein widernatürliches Phänomen nur der Menschen und Götter. Und die Grausamkeit des Menschen ist höchstwahrscheinlich viel zu vielseitig und zugleich nachvollziehbar in ihren genetischen Grundlagen, als dass sie sich glaubwürdig als intentionales Ergebnis außerirdischer Manipulationen erklären ließe.
Schlussendlich entspringen all diese Thesen trotz naturwissenschaftlichen Vokabulars einem durchweg religiös-esoterisch-ideologischen Denkhorizont.
Anmerkungen
[1] Tellinger 2016, 244-294 (Kapitel „Sklaven und Spione“).
[2] Tellinger 2015, 26.
[3] https://de.wikipedia.org/wiki/Ameisen#Sozialparasitäre_Ameisen, aufgerufen am 02.06.2018, 17:48 Uhr.
[4] Tellinger 2016, 206.
[5] Tellinger 2016, 206.
[6] Tellinger 2016, 203-243 (Kapitel „Der Zorn Gottes“).
[7] Tellinger 2016, 210.
[8] Tellinger 2016, 212.
[9] Tellinger 2016, 235.
[10] Tellinger 2016, 438.
[11] Tellinger 2016, 115.
[12] Tellinger 2016, 237.
[13] University of Michigan. „Natural born killers: Chimpanzee violence is an evolutionary strategy.“ ScienceDaily. www.sciencedaily.com/releases/2014/09/140917131810.htm (accessed May 25, 2018).
[14] Tellinger 2016, 48.
[15] Tellinger 2016, 54.
[16] Tellinger 2016, 72.
[17] Tellinger 2016, 65.
[18] https://de.wikipedia.org/wiki/Zehn-Prozent-Mythos. Auf S. 113 erwähnt Tellinger derartige Behauptungen, ohne aber ein Urteil darüber zu treffen.
[19]Tellinger 2015, 63ff.
[20] https://de.wikipedia.org/wiki/Nichtcodierende_Desoxyribonukleinsäure
[21] https://www.nature.com/articles/nature11247
[22] u.a. http://www.pnas.org/content/110/14/5294
[23] Tellinger 2016, 84f.
[24] https://en.wikipedia.org/wiki/Non-coding_DNA#Fraction_of_noncoding_genomic_DNA
[25] https://www.nytimes.com/2018/02/01/science/axolotl-genes-limbs.html
[26] Hypothetische Gedanken, die Unsterblichkeit der Götter mit der sagenhaften Regenerationskraft und permanenten Jugend des Axolotls in Beziehung zu setzen, seien an dieser Stelle einmal ausgeklammert. (Doch kann es ein Zufall sein, dass der Axolotl in der aztekischen Mythologie als Inkarnation eines Gottes – Xolotl – gesehen wurde? Fragen über Fragen …)
[27] Heißt es nicht schon bei Lukas 6,25: „Weh euch, die ihr hier lachet! Denn ihr werdet weinen und heulen.“?
Literatur
Bücher
Tellinger, Michael 2015 (erste Veröffentlichung 2009): Die afrikanischen Tempel der Anunnaki. Verlorengegangene Technologien der Goldminen von Enki. Rottenburg: Kopp 2015
Tellinger, Michael 2016 (erste Veröffentlichung 2005): Die Sklavenrasse der Götter. Die geheime Geschichte der Anunnaki und deren Mission auf der Erde. Rottenburg: Kopp 2016
Sitchin, Zecharia 2016: Das verschollene Buch Enki. Erinnerungen und Prophezeiungen eines außerirdischen Gottes. Rottenburg: Kopp 2016
Internetquellen
University of Michigan 17.09.2014: Natural born killers: Chimpanzee violence is an evolutionary strategy. ScienceDaily. URL: www.sciencedaily.com/releases/2014/09/140917131810.htm
Dunham, Ian, Kundaje, Anshul u. a. 05.09.2012: An integrated encyclopedia of DNA ele-ments in the human genome. In: Nature. 489, 2012, S. 57–74. URL: https://www.nature.com/articles/nature11247
Bakalar, Nicholas 01.02.2018: The Smiling Axolotl Hides a Secret: A Giant Genome
URL: https://www.nytimes.com/2018/02/01/science/axolotl-genes-limbs.html
Doolittle, W. Ford 02.04.2013: Is junk DNA bunk? A critique of ENCODE
URL: http://www.pnas.org/content/110/14/5294
https://de.wikipedia.org/wiki/Ameisen#Sozialparasitäre_Ameisen
https://de.wikipedia.org/wiki/Nichtcodierende_Desoxyribonukleinsäure
https://de.wikipedia.org/wiki/Zehn-Prozent-Mythos
https://en.wikipedia.org/wiki/Non-coding_DNA#Fraction_of_noncoding_genomic_DNA